Robert Stephan Bolli

Hundertwasser in Wien

Hundertwasserhaus an der Ecke Kegelgasse/Löwengasse und Fernheizkraftwerk Spittelau, Wien 2014

 




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Glister

Zum Buch:

Zugegeben: Die Geschichte hat mich schon etwas ratlos zurückgelassen als ich das Buch zu Ende gelesen habe, obwohl ich Romane mit offenen Enden eigentlich bevorzuge. Hat der schottische Bestsellerautor John Burnside uns mit "Glister" einen Kriminalroman vorgelegt? Keinesfalls! Obwohl eine Mordserie an Jugendlichen dem Thema zugrunde liegt. Einen Umwelttriller? Nein, auch wenn man es mit dem ersten Eindruck meinen könnte. Eine Liebesgeschichte? Woher denn, obwohl stellenweise eifrig gefickt wird. Aber das hat nichts zu bedeuten. Ein Bildungsroman? Möglich. Es ist eher von allem etwas. Eine beklemmende Geschichte, die den Leser bis zum Ende gefangen hält und bisweilen für zünftige Gänsehaut sorgt. Also nochmals: Was ist der Glister? Ein Wetterphänomen? Ein Apparat, mit dem man sich in andere Dimensionen versetzen lassen kann? Oder einfach ein Zustand? Burnside lässt den Leser mit dieser Frage im Unklaren, und das nervt ziemlich! Trotzdem sollte man unbedingt dranbleiben, denn der Autor hat auf brillante Weise mit seinen minutiös beschriebenen Charakteren und ihrem Umfeld eine Sprache gefunden, die den Zusammenhang von Schuld, Sühne und Bestrafung in einen Zwischenraum von Religion und Realität stellt. Nichts raunend Orakelhaftes hat sein Text, aber auch nichts demonstrativ Schockierendes. „Glister“ zielt über die Zeit, über die Gegenwart hinaus. Und trifft mitten in die Verfasstheit des Menschen.  

Zum Inhalt:

Der 15-jährige Leonard wurde vom Schicksal dazu verdonnert, in Innertown, einer schäbigen Kleinstadt, irgendwo an einer abgelegenen Küste Schottlands aufzuwachsen. Dank einer Chemiefabrik, die unter anderem auch Düngemittel hergestellt hatte, gelangte die Stadt zu bescheidenem Wohlstand. Das Werk brachte den Menschen Arbeit, Auskommen und den Tod. Die chemischen Erzeugnisse verseuchten hochgradig die Gegend und das Grundwasser. Die Krebserkrankungen wie auch die Kindersterblichkeit in Innertown liegen weit über dem landesüblichen Schnitt. Die Stilllegung der Fabrik hat an der Situation nicht das Geringste verändert: Mit jedem Regenguss werden weitere Giftstoffe aus den maroden Brennöfen, den vor sich hinrostenden Tanks und den Lagerhallen ausgeschwemmt und bei Trockenheit verbreitet der Wind den Dreck über die Gegend.

Die Menschen von Innertown haben sich längst mit diesen Zuständen abgefunden. Abgezehrt und von Krankheiten gezeichnet, vegetieren sie apathisch vor sich hin, ohne jeglichen Willen, an der Misère  etwas zu ändern. Da ist niemand, der sich um die Probleme kümmern sowie die Ursachen bekämpfen könnte; und Hilfe von aussen ist sowieso keine zu erwarten. Selbst als nach und nach Kinder und Jugendliche spurlos verschwinden, reagieren die Menschen mit einer unbegreiflichen Gleichgültigkeit. Allgemein wird angenommen, die Jungen seien abgehauen, um woanders eine bessere Zukunft zu suchen.

Nur der labile und leicht manipulierbare Ortspolizist Morrison könnte mehr darüber berichten, vor allem, als er im "Giftwald" auf eine schrecklich zugerichtete Knabenleiche stösst. Beim Blick in Mark Wilkinsons Gesicht erkennt der Polizist, „dass die Qual des Jungen für den Mörder eine religiöse, gar mystische Bedeutung gehabt haben musste“. 

Doch Morrison wird in dieser Sache nichts unternehmen, keine Meldung an die nächsthöhere Stelle erstatten. Denn er wurde längst vom Immobilienmakler Smith "gekauft", einem cleveren Geschäftsmann, der nun alle Fäden in Innertown in den Händen hält. Und dieser plant, auf dem verseuchten Gelände der Chemiefabrik, unter dem wohlklingenden Namen Homeland, den Bau von Luxuswohnraum für Topverdiener, inklusive Golfplatz und Freizeitpark. 

Nur Leonard, der 15-jährige "Ich-Erzähler" (etwa drei Viertel des Buches werden aus seiner Sicht erzählt), ein dubioser Junge - bei dem man als Leser öfters zwischen Sympathie und Arroganz hin- und herswicht -, mit messerscharfem Verstand, die Weltliteratur aus der Bibliothek in sich hineinfressend, auf der Industriebrache herumstöbernd und sich letztlich einer brutalen Jugendgang anschliesst, obwohl er über alldem zu stehen scheint, will der Sache auf den Grund gehen und macht sich auf die Suche nach seinem Freund Liam, der ebenfalls verschwunden ist.

John Burnside "Glister" 2008  (Deutsch 2009 bei Knaus, München)




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Leonor Fini

 Leonor Fini: Selbstbildnis (1941)

Der New Yorker Galerist Julien Levy hat Leonor Fini (1907-1996) einmal so beschrieben: "(...) keine schöne Frau; ihre Körperteile passten nicht so recht zusammen: der Kopf einer Löwin, der Verstand eines Mannes, die Brust einer Frau, der Rumpf eines Kindes, die Anmut eines Engels und eine Zunge wie der Teufel ... Ihre Faszination lag in der Fähigkeit, so über diese unstimmigen Körperteile zu verfügen, dass sie sich zu jeglicher Form arrangierten, die ihre Fantasie ihr von einem Augenblick auf den nächsten eingab".

Während Levys Worte einerseits die entscheidende Rolle verdeutlichen, die er bei der Vermittlung eines neuen surrealistischen "Typus" an das amerikanische Publikum der 1930er- und 1940er-Jahre spielte, erwecken sie andererseits das Frauenbild innerhalb dieser Typologie: Stets wurde sie als exotisch-animalische Femme fatale wahrgenommen. Ob Modell, Muse oder Künstlerin, man erwartete von ihr, dass sie das Wesen des Surrealismus verkörperte - die Fantasie. Bald aber lenkten die Surrealistinnen den genderspezifischen Blick auf die Imagination um, fanden ihren eigenen unabhängigen Ausdruck und entwickelten eine neue Bildsprache, die ihrer Vorstellung von der modernen, sexuell befreiten Frau entsprach.

Fini wurde als Tochter italienisch-slawischer Eltern in Buenos Aires geboren und wuchs in Triest im Umfeld von James Joyce und Rainer Maria Rilke auf. Zur Entwicklung eines eigenen künstlerischen Stiles, einer unverkennbaren Bildsprache, liess sie sich von zahlreichen historischen Vorbildern und einer Vielzahl von Künstlern inspirieren - von Hieronymus Bosch und dem italienischen Manieristen Agnolo Bronzino ebenso wie von Gustav Klimt, Egon Schiele und Giorgio de Chirico.

1931 siedelte sie der surrealistischen Kunst wegen nach Paris über und stellte dort erfreut fest, dass sie sich in den Schriften Sigmund Freuds, Franz Kafkas und Friedrich Nietzsches besser auskannte als viele weitere Künstler der Surrealistengruppe. Durch die Vereinigung vielfältiger Einflüsse in ihren minutiös gesetzten Pinselstrichen, satten Farbigkeit und feinen Oberflächenstrukturen, durch ihr Interesse an Psychoanalyse, Philosophie, Mythologie und Zauberei, sowie Finis Fokus auf die Frau als sinnlich-sexuelles Wesen, das oft auch in Gestalt einer grausamen Domina oder eines Raubtiers auftritt, lenkte sie den Surrealismus in eine neue Richtung.

 Leonor Fini, Paris 1951

In Finis Frühwerk "Die Neugierige" (1936), das für ihre erste Ausstellung in der Julien Levy Gallery in New York entstand, beobachtet ein älterer Mann durch ein Schlüsselloch eine gross gewachsene Frau in einem präraffaelitischen Kleid, mit Reitgerte in der Hand. Die Tür lässt die Szene zwischen Traum  und Albtraum oszillieren, während wir in ein erotisches Drama einbezogen und dabei selbst zur Voyeurin oder zum Voyeur werden. Diese Dynamik dominierte anschliessend sämtliche Gemälde der Künstlerin, die in obsessiver Weise das Bild der Femme fatale immer wieder aufgreifen und Frauen - einschliesslich ihrer Freundinnen und sich selbst - mit Löwenmähne, Fin-du-Siècle-Gewändern und kühnem Medusenblick porträtieren. In "Die Hirtin der Sphinxe" (1941) erscheint derselbe Frauentypus inmitten eines Harems von Sphinxen in einer gleichfalls öden Landschaft. Diesmal aber trägt die Frau einen nur knapp bedeckenden Panzer aus Metall, der dazu dient, den Blick auf ihr Geschlecht und den phallischen Stab in ihrer Hand zu lenken. 

Männliche Surrealisten griffen häufig Themen der griechischen Mythologie auf, beliebt war vor allem die Geschichte von Ödipus, und so ist es nicht überraschend, dass Fini die dort erwähnte Sphinx wiederholt abgebildet hat. Ihre Darstellung unterscheidet sich allerdings von der vieler ihrer männlichen Kollegen insofern, als Finis Sphinx allmächtig erscheint und der ödipale Mann als ein nach Lust und Laune zu benutzendes Spielzeug. Diese Konstellation zeigen einige ihrer berühmtesten Werke, etwa "Erdgottheit, die den Schlaf eines Jünglings bewacht" (1946) oder "Das Ende der Welt" (1949), wo die Sphinx umgeben von Schädeln in Erscheinung tritt.

 Leonor Fini als Sphinx

 

"Erdgottheit, die den Schlaf eines Jünglings bewacht" (1946)  (Bild unten: Detail)

In diesen Gemälden kehrt Fini traditionelle Rollenbilder faktisch um und zeigt die Frau als heroische Figur und den Mann als schönen, passiven Akt (der ihrem Geliebten, dem italienischen Graf Sforzino Sforza nachempfunden ist). Die männlichen Akte in ihren Bildern seien oft schlafend dargestellt, erklärte die Künstlerin, weil "Männer durch die Verpflichtungen von Arbeit, Gesellschaftsleben und Krieg unempfänglich sind für ein Leben des Geistes". Die Sphinx beherrscht die während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Gemälde Finis, erlaubt ihr eine Umkehrung herkömmlicher Geschlechterbilder und die Kritik an einer Gesellschaft, in der von Männern Aggressivität und von Frauen Passivität erwartet wird.

 "Im Turm" (1952)

 "Das Opfer ist die Königin" (1963)

 "Der Mann mit Masken" (1949)

Als ein Wesen, das halb Frau, halb Löwin ist, versinnbildlicht die Sphinx eine Vereinigung männlicher und weiblicher Merkmale, von Animus und Anima und die Vision einer weniger aggressiven Gesellschaftsordnung. Tatsächlich sah Fini in ihr die perfekte Verschmelzung beider Geschlechter und identifizierte sich auch deshalb mit der Sphinx, weil sie sich selbst als "Zwitterwesen" empfand.

So porträtierte sie sich etwa in Bildern wie "Im Turm" (1952) in der Art einer Sphinx, die einen männlichen Akt durch eine verfallene Architekturumgebung führt. Durch die Farbe Rot als Symbol für den alchemistischen Weg wird angedeutet, dass den Mann so etwas wie eine Einführung in den steinernen Turm erwartet. Das Bild entstand, als sich Fini und ihre beiden Liebhaber, Stanislao Lèpri und Konstanty (Kot) Jelenski, in Torre San Lorenzo in Italien  aufhielten. Und tatsächlich ähnelt der schlanke, im Bild dargestellte Mann dem dreissigjährigen Jelenski, während in seiner Initiatorin die Künstlerin selbst zu erkennen ist. In den 1950-er-Jahren wandte sich Fini zunehmend Themen wie Zauberei und Tod zu, malte priesterinnenartige Frauenfiguren in roten oder goldenen Roben, etwa in "Die Wächterin mit dem roten Ei" (1955) und "Das Opfer ist die Königin" (1963). Das Symbol des Eis und die flammenähnlichen Farben verweisen auf die alchemistische Kraft der Verwandlung und ordnen sie dem Weiblichen zu.

 Selbstporträt mit Stanislao Lèpri

Indem Fini die Macht über Leben und Tod der Frau zuweist, setzt sie die Frau einmal mehr mit Tugend, Mutterschaft oder Gehorsam gleich. Sie bewunderte auch die Schriften des Marquis de Sade und schuf 1944 insgesamt 22 Radierungen für eine Prachtausgabe von de Sades Roman "Juliette", der 1797 erstmals im Vatikan gedruckt worden war, wie sie in mehreren Interviews amüsiert erzählte.

Viele ihrer Werke sind geprägt von einer "Philosophie des Boudoirs" de Sades und propagieren einen neuen, freizügigen Frauentypus, welcher der wilden Juliette nicht unähnlich ist. Ob Fini die Frau als hybride Göttin, Medusa, Freigeist oder weise Sphinx inszeniert - all ihre kriegerische Heldinnen bestimmen über Leben und Tod. Diese "neuen Frauen" gehen über das sonst übliche Hierarchische Verhältnis von Meister und Muse hinaus und schwelgen in der macht des Begehrens und der Fantasie. In ihrer Kunst plädierte Leonor Fini für das, was sie "eine Welt der nicht oder kaum voneinander differenzierten Geschlechter" nannte, und übertrug die Vision eines von Frauen regierten Universums auf den Surrealismus.

 

Anmerkung zur Verfasserin dieses Textes:

Dr. Alyce Mahon ist Assoziierte Professorin für Kunstgeschichte der Moderne & Gegenwart an der University of Cambridge und Verfasserin von "The Marquis de Sade and the Avant-Garde" (Princeton University Press 2020) sowie zahlreichen weiteren Publikationen.

Bildnachweis: Wikipedia

 

 

 

 




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Henry David Thoreau

 

 

I went to the woods because I wished to live deliberately.

I wanted to live deep and suck out all the marrow of life.

To put to rout all that was not life,

and not when I had come to die, discover that I had not lived.

 

Henry David Thoreau, amerikanischer Schriftsteller und Philosoph, geb. 12. Juli 1817, gest. 6. Mai 1862

 




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"Vincent van Stein"

Original: Vincent van Gogh, Selbstbildnis - barhaupt, mit geöffnetem Rock vor wirbelförmigem Hintergrund. Hier in einer sehr freien "Bearbeitung" von Uli Stein, deutscher Cartoonist und Fotograf. (*  26.12.1946 in Hannover, † 29.08.2020 in der Wedemark [bei Hannover]) 




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