Um es vorweg zu nehmen: wer Esoterikromane liebt, die mit einer Prise Liebe und Romantik, Spannung und einem Hauch Wissenschaft und Ethik angereichert sind, wird mit "Das Lazarus Kind" vom britischen Bestsellerautor Robert Mawson, bestens bedient sein.
In der Tat: es ist kein leichtes Thema, dem der Erfolgsautor sein bisher erfolgreichstes Werk widmet. Grundsätzlich geht es um die beiden wichtigsten Fragen, ab wann kann/darf/soll oder muss man einem unheilbar kranken Komapatienten bzw. einem "klinisch Toten" die lebenserhaltenden Maschinen abschalten? Und - inwiefern macht es Sinn, einen vor Wochen, Monaten oder gar Jahren ins Dunkle abgedrifteten (Koma)-Patienten wieder ins Diesseits zurückzuholen? Ein brisanter Themenkreis, der nicht nur Medizinern, Juristen, Versicherern und Krankenkassenvertretern überlassen werden darf.
In diesem Sinne: "Hut ab" vor Robert Mawson, der uns mit "Das Lazarus Kind" einen Roman mit einem unbequemen Thema vorgelegt hat, der mich - trotz einiger Mängel - von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen hat.
Zum Inhalt:
Nach einem schweren Verkehrsunfall fällt die kleine Frankie Heywood ins Koma (apallisches Syndrom). Ihre in Scheidung lebenden Eltern wollen dem Kind helfen, fühlen sich aber mit der Situation überfordert. Vor allem als ihr 12-jähriger Sohn Ben psychische Probleme zu entwickeln beginnt und schliesslich völlig wegdriftet. Er hat den Unfall aus nächster Nähe beobachtet und fühlt sich schuldig, weil er von den Eltern gebeten wurde, auf seine Schwester aufzupassen.
Übers Internet erfährt die Familie von einer Komaklinik in den USA. Die umstrittene amerikanische Neurologin Dr. Elizabeth Chase wendet dort äusserst umstrittene Methoden an, um Komapatienten zu wecken. In letzter Zeit sind in dieser Klinik bei Weckversuchen auch Patienten gestorben. Darum ist die örtliche Regierung drauf und dran das Institut dicht zu machen. Vor dem Gebäude patrouillieren Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen und terrorisieren die Ärztin mit Drohanrufen.
Die Familie Heywood setzt alles auf eine Karte, ignoriert alle Risiken und reist völlig überstürzt in die USA. Es beginnt ein wirklich spannender Wettlauf gegen die Zeit und gegen die Behörden, der mich sehr ans Buch gefesselt hat, aber nun scheint dem Autor die Luft ausgegangen zu sein, denn er vezettelt sich plötzlich in zu vielen Sidestories, die Handlung wird immer abstruser.
Dr Chase versetzt Ben mit Hilfe von Hypnose in einen Tiefschlaf. Mit einem speziell entwickelten Computerprogramm koppelt sie die Kinder über EEG aneinander und lässt sie quasi über Gehirnströme miteinander kommunizieren. Doch zu einem Durchbruch kommt es nicht, die Klinik wird von Staates wegen geschlossen, das hochkomplexe Elektronik- und Medizinalinventar von der Armee beschlagnahmt. Daraufhin zieht sich Dr. Chase mit Ben, der aus dem künstlichen Koma nicht mehr erwacht ist, in das verlassene Haus eines Massenmörders zurück, um die Therapie fortzuführen. Zur Rettung der Kinder lässt sich die Ärztin selbst ins Koma versetzen. Der Staatsanwalt, der sich im Laufe der Ermittlungen in die Neurologin verliebt hat, kündigt seine Stellung und pflegt seine Angebetete. Die kleine Frankie kann immerhin "in einem kleinen elektrischen Rollstuhl" ihrem wieder völlig geheilten Bruder "verworrene Anweisungen" zurufen. Die leidgeprüften Eltern haben sich inzwischen natürlich auch wieder versöhnt.
Dieser dritte Teil des Buches ist schlicht eine Zumutung für den Leser. Er ist stellenweise langatmig, abgedreht und überhaupt nicht nachvollziehbar. Die anfänglich seriöse Auseinandersetzung mit medizin-ethischen Fragestellungen driftet immer mehr in den Bereich der Esoterik ab. Das Finale wird mit einem auf zwei Seiten reduzierten Geschwurbel abgehakt. Schade, dass Mawson nach einem vielversprechenden Anfang die hochgesteckten Erwartungen letztlich dann doch nicht erfüllen konnte.
"Das Lazarus Kind" (Orig. The Lazarus Child) von Robert Mawson, 1998, 416 Seiten, Deutsch bei Bertelsmann-Club
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Mud - Kein Ausweg
Zur Geschichte:
Die besten Freunde Ellis (Tye Sheridan) und Neckbone (Jacob Lofland) statten einer Insel im Mississippi einen Besuch ab. Sie wollen dort ein Motorboot suchen, das sich während der letzten Flut im Geäst eines Baumes verfangen hat. Die beiden 14-Jährigen finden das Boot und untersuchen es, merken aber schnell, dass sich bereits jemand in dem Kahn eingerichtet hat. Der mysteriöse Mud (Matthew McConaughey) versteckt sich dort offensichtlich vor Verfolgern. Zaghaft nähern sich Ellis und Neckbone dem undurchschaubaren Fremden an und bringen ihm Essen auf die Insel. Nach einer Weile bekommen die Jungen heraus, dass Mud wegen Mordes gesucht wird. Auch eine Horde Kopfgeldjäger ist ihm auf der Spur. Über Ellis und Neckbone versucht Mud Kontakt mit seiner Jugendliebe Juniper (Reese Witherspoon) aufzunehmen - sie scheint mit dem Mordfall in Verbindung zu stehen.
Nach dem vielbeachteten Indie-Drama "Take Shelter - Ein Sturm zieht auf" setzt Regisseur Jeff Nichols seinen Weg nach oben mit "Mud" weiter fort. Der Mann aus Little Rock, Arkansas, beschwört in seinem wundervoll bebilderten Coming-Of-Age-Abenteuer einen Hauch der guten alten Zeit. Der zwielichtige, braungebrannt-wirrhaarige Vagabund Mud ist dabei ein moderner Huckleberry Finn, der trotz aller charakterlichen Schwächen fast mythische Dimensionen erreicht - was Nichols und McConaughey aber selbstverständlich mit einem grossen ironischen Augenzwinkern garnieren.
Wie ein Westernheld aus der Fremde wirbelt Mud das Leben in der Kleinstadt am Mississippi allein durch seine Präsenz gehörig durcheinander und nebenbei begradigt er die kleinen Unebenheiten der lokalen Welt. Dass der faszinierende Fremdling ein Mörder auf der Flucht ist, schreckt die beiden Jungen Ellis und Neckbone denn auch kaum ab. Die Abenteuerlust ist allemal grösser als die Angst vor dem Unbekannten. Diese sympathische Neugier überträgt sich dank der tollen Darsteller, dem sehr stimmigen Setting und der geradezu schwebenden Filmmusik auf die Zuschauer. "Mud" strotzt nur so vor Südstaaten-Charme und die Freundschaft zwischen Mud und Ellis ist sein Herz.
Während der gut zwei Stunden Spielzeit findet Jeff Nichols auch Zeit für die kleinen Geschichten am Rande, mit denen er die spezielle Südstaaten-Atmosphäre seines Films weiter verdichtet. Auf den scheinbaren Umwegen gibt er seiner Handlung Tiefe, etwa wenn er von Ellis' Problemen mit der bevorstehenden Trennung seiner liebevollen, aber zerstrittenen Eltern (Ray McKinnon, Sarah Paulson) erzählt oder von den tapsigen Versuchen des Jungen, bei einer älteren Schülerin zu landen.
Mud indes bleibt bei all dem bis zum Ende undurchdringlich. Auch wenn er durch die Beziehungen zu seiner grossen Liebe Juniper und zu seinem väterlichen Freund Tom Blankenship (Sam Shepard) einiges an Profil gewinnt, bleibt seine vermeintliche verbrecherische Vergangenheit bis zum Ende im Vagen - und die Spannung hoch.
Matthew McConaughey spielt in "Mud" gross auf - er ist der lässige ältere Bruder, den wir uns alle immer gewünscht haben. Kontrollierte Bewegungen, sparsame Gesten und einige archetypische Westernposen genügen ihm, um dem Film seinen Stempel aufzudrücken - spätestens mit dieser charismatischen Glanzleistung empfiehlt er sich für die Zusammenarbeit mit den ganz grossen Autorenfilmern. Der junge Tye Sheridan erweist sich indes als ebenbürtiger Partner und die Nebendarsteller Reese Witherspoon, Sam Shepard sowie Michael Shannon runden die grossartige Arbeit der beiden Protagonisten bestens ab. Da fällt es dann auch nicht weiter ins Gewicht, dass Jeff Nichols am Ende den perfekten Ausstieg verpasst und dass zwischendurch das wilde Geballere ausufert.
Fazit:
Jeff Nichols schuf mit "Mud - Kein Ausweg" ein charmantes Jungen-Abenteuer, das von seiner tollen Südstaaten-Atmosphäre und einem schauspielerisch gereiften Matthew McConaughey an eine moderne Mark Twain - Inszenierung von Huckleberry Finn erinnert. Meine Bewertung: mit Überzeugung 4 von 5 Punkten.
"Mud - Kein Ausweg" USA 2012; Regie: Jeff Nichols; Produktion: Lisa Maria Falcone, Sarah Green, Aaron Ryder; Laufzeit: 131 Min.
08. Juni 2021; Text (leicht gekürzt): Carsten Baumgardt; Bildquelle: filmstarts.de
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Onkel Tom am 21.06.2021 Hi Robert, so was wie "Stand By Me"?
Robert Bolli: Hi Tom, könnte man so meinen. Der Südstaaten-Look ist wirklich verblüffend ähnlich. Aber die aufgegriffenen Themen sind doch sehr verschieden: In "Stand By Me" geht es um wahre Freundschaft, in "MUD" geht es um das Loslassen können (Mud muss sich von seiner Angehimmelten endgültig trennen und Ellis von seinem geliebten Hausboot auf dem Mississippi).
Freundschaft
Freundschaft ist grosser Stoff
Mitten in der Pubertät, nach aussen hin selbstsicher, wortreich, frech, in Wahrheit aber unsicher und beschämt mit meiner rötlichen Haut (wo ich mir doch virile Sonnenbräune so gewünscht hätte), war die Freundschaft mit Benedict für mich Balsam und Manna zugleich. Wir verstanden uns ohne Worte und sprachen doch dauernd, bildeten uns viel auf unsere Kennerschaften ein, tauschten Literatur- und Musiktipps, tranken nur Wein - Bier war unter Niveau - , wir pflegten unsere Prätentionen.
Alle Probleme mit den Mädchen, der eigenen Unsicherheit, mit den Eltern, mit der Zukunft prallten an diesem Schild von Gemeinsamkeit und Exaltation ab - und das war wunderbar. Seither weiss ich, was Freundschaft heisst, und verstehe, weshalb sie für Dichterinnen und Philosophen seit der Antike grosser Stoff ist.
Die schönsten Zeilen über das Wesen der Freundschaft finden sich in den "Essais" von Michel de Montaigne, in denen er auf seine Freundschaft mit dem jung verstorbenen Adligen Étienne de La Boétie zurückschaut.
Zu nichts, sagt er, sind wir Menschen so bestimmt wie zur Geselligkeit, welche sich in Freundschaften vollendet. Er wägt diese ab gegen andere Formen menschlicher Beziehungen, gegen Zweck- und Geschäftsverbindungen, gegen familiäre Bande und erotische Bindungen, auch gegen die Ehe, die er meiner Meinung und Erfahrung nach allzu kühl behandelt). Montaigne beschreibt Freundschaft als die einzigartige, freie Verbindung zweier Seelen. Er spricht sogar von Verschmelzung und prägt dafür ein Bild: eine Verschmelzung, bei der man keine Naht mehr ausmachen kann.
Montaignes Definition brilliert dort, wo sie spezifisch wird und er auf seine Freundschaft mit Étienne de La Boétie zu sprechen kommt: "Wenn man mich fragt", so schreibt er, "warum ich ihn liebte, so fühle ich, dass sich dies nicht aussprechen lässt, und ich antworte dann: 'Par ce que c'estoit luy; par ce que c'estoit moi' - weil er Er war und ich Ich." Das ist hinreissend. Keine Gründe: Klugheit, Attraktivität, Erfolg, Reichtum, Sportlichkeit, Sanftmut - nein: Montaigne und Boétie schlossen und lebten Freundschaft, "parce que c'était lui, parce que c'était moi".
Montaigne hat den Mut zur Überschwänglichkeit. Natürlich könnten wir ihm entgegenhalten: Was ist mit psychologischen Mustern, mit Affinitäten und Beuteschema? Und wie stehts mit den Algorithmen, die in Kontakt-Apps Menschen verbandeln? Wirklich nur zwei Seelen, nur "weil er Er war und ich Ich"? Nichts gegen technische Hilfsmittel, um auf Menschen zu treffen, mit denen man Freundschaft und Liebe finden möchte. Aber wer Such- und Präferenzalgorithmen verinnerlicht, wird zum Konsumenten und taugt nicht zum Freund. In Freundschaften wird uns etwas zugespielt. Unverhoffte Begegnungen sind Geschenke, keine Kaufakte.
Der theologische Begriff dafür heisst Gnade. Im Lateinischen mit einem vielfarbig-glänzenden Worthof: gratia bedeutet gratis, geschenkt, nicht käuflich, grazil und also auch schön.
Text: Niklaus Peter, Pfarrer am Fraumünster in Zürich
Foto: leider unbekannt
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Banksy in Basel
Der Titel ist möglicherweise irreführend, denn Banksy war meines Wissens bisher nie in Basel. Dass die Stadt am Rheinknie - und somit die Schweiz - dennoch vom 1. März bis 30. Mai 2021 die vielleicht wichtigste Ausstellung des Jahres beherbergen darf, ist eine kleine Sensation und für Stadt und Land eine grosse Ehre. Den Veranstaltern gebührt ein grosses Lob und ein ebensolches MERCI, denn aufgrund der Pandemie sind solche Anlässe stets unter erschwerten Bedingungen und nur unter den geltenden Sicherheitsmassnahmen durchführbar.
Die vollständige Bezeichnung der Ausstellung lautet: Banksy, building castles in the sky - an unauthorized exhibition. Die Museumsleitung, die Organisatoren und die Kuratoren weisen ausdrücklich darauf hin, dass der als Banksy bekannte Künstler nicht an dieser Ausstellung beteiligt ist und weder unterstützend noch durch zur Verfügung gestellte Kunstwerke zu dieser Austellung beigetragen hat. Die in der Ausstellung präsentierten Kunstwerke und Objekte stammen ausschliesslich von privaten Sammlern.
In diesem Sinne dürfte die in der Messe Basel gezeigte Auswahl - eine Art Werkschau über die vergangenen 20 Jahre seines Schaffens - von über 130 Kunstwerken des britischen Street-Art-Künstlers wohl einmalig sein.
Hier eine kleine Auswahl, mitunter einige seiner bekanntesten Arbeiten:
Self-Portrait, 2001 / 2002, Acryl auf Platte
3 x div. Ratten, 2004, Siebdruck auf Papier
Bomb Love (Bomb Hugger), 2003, Siebdruck auf PapierNola, 2008, Siebdruck auf Papier
Girl with Balloon, 2004-2005, Siebdruck auf Papier
Virgin Mary (Toxic Mary), 2003, Siebdruck auf Papier
Lying To The Police Is Never Wrong, 2007, Spray und Materialmix auf Platte
Bomb Middle England, 2002, Siebdruck auf Papier
HMV (His Masters Voice), 2003, Siebdruck auf Papier
Queen Vic, 2003, Siebdruck auf Papier
Love is in the air, 2002, Spray auf Leinwand
Love Is In The Air (Flower Thrower), 2003, Siebdruck auf Papier
CCTV Britannia, 2009, Spray auf gelochtem Stahlblech
Flying Copper, 2003, Siebdruck auf Papier
CND Soldiers, 2005, Siebdruck auf Papier
Mickey Snake, 2015
Golf Sale, 2003, Siebdruck auf Papier
Family Target, 2003, Spray auf Tafel
Bunny In Armoured Car, 2002, Spray auf Leinwand
Napalm (Can't Beat That Feeling), 2004, Siebdruck auf Papier
Sale Ends Today, 2007, Siebdruck auf Papier
Walled Off Hotel Box Set, 2017
Walled Off Hotel Box Set; Detail
Selfportrait, 2010, Offsetdruck auf Papier
Game Changer, 2020, Öl auf Leinwand
Basel, 09. 04. 2021
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Zum Thema "Coronavirus" (6)
1 Jahr Corona - und wie weiter?
Hoffnungen und Befürchtungen
Eigentlich ist es zum Lachen - oder doch eher zum Heulen? Ein winzig kleines Virus bremst die Menschheit seit etwas mehr als einem Jahr aus! Zugegeben, damit hatte nun wirklich niemand gerechnet. Bis gegen Ende 2019 beschäftigte sich die Weltpolitik noch vorwiegend mit Klimafragen bzw. mit streikenden Schülern. Dann plötzlich beherrschten Horrormeldungen aus dem covidverseuchten Wuhan in China, und wenig später bereits aus Italien - Stichwort Bergamo - die Berichterstattung aller Medien rund um den Globus. Es dauerte nicht lange - wen wundert's bei den damals üblichen Reisemöglichkeiten - und die ersten Infektionen wurden aus der Südschweiz gemeldet.
Nun, das Schreckensszenario, das man noch von der Spanischen Grippe her in schlechtester Erinnerung hat, als die Menschen gleich reihenweise wegstarben, blieb zum Glück aus. Bessere Hygienemassnahmen und ein praktisch europaweit verordneter Lockdown - inklusive einer Grenzschliessung zwischen der Schweiz und ihren Nachbarstaaten (ab 15. März 2020) - verhüteten das Schlimmste, wenn auch eine zweite Welle ab Anfang September 2020, nicht verhindert werden konnte.
Kann man daraus etwas lernen? Wenn ja, dann vielleicht dies: Die Leute sind vorsichtiger geworden. Man gibt sich mit der Hygiene mehr Mühe. Mancher hat zum Beispiel gelernt, wieder richtig und öfters die Hände zu waschen. Man bleibt auf Distanz, wo körperliche Nähe unangebracht wäre u. s. w.. Ein weiterer, durchaus positiver Faktor bildet die Entschleunigung. In praktisch allen Bereichen musste das Leben heruntergefahren werden. Plötzlich hat man wieder Zeit. Zeit für sich selber, Zeit innezuhalten, Zeit nachzudenken. Warum diese Hektik in der "Vor-Corona-Zeit"? Momentan gibt es kaum mehr etwas, das übertriebene Eile rechtfertigen würde (sollte man jedenfalls meinen). Ein anderer positiver Aspekt ist die Auswirkung der Entschleunigung auf Natur und Umwelt. Ein aufs Minimum reduziertes Konsum- und Freizeitverhalten verringert logischerweise auch negative Einflüsse auf die Umwelt und sei es auch nur lokal beschränkt und vermutlich auch nur kurzfristig.
Schaffhausen, Fronwaagplatz im April 2020
Gegenwärtig, so scheint es, steuern wir auf eine dritte Welle zu. Dabei überbieten sich die Landesregierungen (allen voran Frau Merkel und Herr Berset) mit überbordenden Schnellschüssen den Massnahmenkatalog zu erweitern. Dabei beschäftigen mich die Fragen, wie geht es weiter - was kommt noch alles auf uns zu? Noch mehr Schliessungen von Ladengeschäften und Restaurants? Noch länger keine kulturellen oder sportlichen Veranstaltungen?
Vielleicht bin ich der falsche Ansprechpartner für solche Sachen. Ich bin mir von Kindheit an das Alleinsein gewohnt. Ich brauche keinen "Kuddel-Muddel" um mich herum. Mir ist auch selten langweilig. Grundsätzlich habe ich immer etwas zu tun - und wenn es auch nur um das Bearbeiten dieses Blogs geht! Vor dem Virus habe ich keine Angst. Dafür habe ich mich in früheren Jahren viel zu oft von fremden Menschen aus aller Welt anhusten lassen. Beruflich habe ich pandemiebedingt kaum etwas zu befürchten - und das ist doch auch etwas.
Trotzdem: mir geht es um die Frage, was übrig bleibt, wenn Corona vorbei ist. Inwiefern wird sich unser Sozialverhalten ändern? Oder wird die Gesellschaft wieder auf die alten Gleise aus der Vor-Corona-Zeit zurückfinden? Auch diese Option scheint mir realistisch, wenn auch nicht besonders erstrebenswert. Was also bleibt aus der Sicht eines "Normalos"? Dass das Tragen einer Schutzmaske uns auch noch in den kommenden Jahren beschäftigen wird, scheint fast unvermeidlich, aber ggf. am ehesten vertretbar. Das Vorlegen eines Impfausweises für Fernreisen im Flugzeug oder mit der Bahn scheint mir problematischer. Die Teilung in eine 2-Klassen-Gesellschaft wäre absehbar, die Frust-Toleranz würde noch geringer ausfallen.
Hippolyte Flandrin (1809-1864): Jüngling am Meeresufer sitzend, (1836 Öl auf Leinwand, Paris, Musée du Louvre)
Gegenwärtig kann man den Medien immer öfters entnehmen, dass sich vor allem die Jugend besonders benachteiligt fühlt. Das ist insofern verständlich, weil die ganzen Impfprogramme prioritär auf die Alten und Gebrechlichen als Zielgruppe gesetzt werden, während junge Menschen und solche, die beruflich "an der Front" ihren Diensten nachgehen müssen, also solche, die sich niemals in ein Homeoffice zurückziehen können, werden auf spätere Impftermine vertröstet. Das sorgt für manchen Unmut.
Gerade für Jugendliche, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehen, bedeuten die amtlich verordneten Schutzmassnahmen mit den ganzen Einschränkungen, einen enormen Einschnitt in die persönliche Freiheit. Der Umgang mit Gleichaltrigen, das Knüpfen von Kontakten u. s. w. wäre gerade in dieser Phase besonders wichtig. Stattdessen verbannt man die jungen Leute praktisch zum Nichtstun. Freizeitangebote sind sozusagen inexistent, ein kultureller Austausch verunmöglicht. Viele Menschen (nicht nur junge) fühlen sich aufgrund der Isolation durch Homeoffice/Homeschooling zunehmend gestresst und psychisch am Anschlag und Hilfe von aussen ist immer schwieriger zu bekommen. Die Psychiatriezentren wie auch die Psychotherapeuten haben für Neupatienten kaum noch freie Kapazitäten.
Kein Wunder, verschaffen sich Jugendliche immer häufiger mit "Ersatzprogrammen" Abhilfe. Seit Ausbruch von Corona ist die Kriminalitätsrate sprunghaft angestiegen. Die Rede ist von einer 10-Prozent-Quote im Vergleich zum Vorjahr ohne Corona. Gleichzeitig hat sich leider auch der Anteil von kriminellen Minderjährigen um 6 Prozent vergrössert. Geradezu erschreckende Ausmasse hat die Lockdown-bedingte Zunahme im Bereich der Kinderpornographie angenommen. Auch hier geht man von zehn Prozent aus, wobei Fachleute mit einer bedeutend grösseren Dunkelziffer rechnen. An dieser Stelle sei wieder einmal darauf hingewiesen, dass die Pandemie ein idealer Nährboden für die Internetkriminalität darstellt.
Wird sich die Gesellschaft dereinst mit einer verlorenen Jugend herumschlagen müssen? In einem Magazin war kürzlich ein Artikel zu lesen, in dem von einem T-Shirt mit dem Aufdruck "Spoiled Youth", also vergeudete Jugendzeit, die Rede war. Sicher ist: die Pandemie wird eine Menge frustrierter und desillusionierter Menschen zurücklassen. In welchem Ausmass und wie die Gemeinschaften mit ihnen umgehen wird, steht noch in den Sternen.