Robert Stephan Bolli

Das Flimmern am Horizont

Irgendwo in der Romandie liegt der Bauernhof der Familie Sutter, den im Jahre 1976 - wer mag sich daran erinnern? - ein herbes Schicksal ereilt. Er war nicht der einzige, denn in jenem Sommer lastete eine derart verheerende Hitze auf dem ganzen Land, dass offiziell der Notstand ausgerufen wurde.

Roland Butis Roman handelt von einer familiären Katastrophe. Er stellt das absehbare und folgenreiche Verhängnis der Familie in den grösseren Zusammenhang des wirtschaftlichen und kulturellen Niedergangs der Kleinbauern nach dem Krieg und erzählt all das in einer unaufgeregten, ansprechenden Weise: amüsant, geistreich, pointiert. Dafür wurde "Le milieu de l'horizon" mit dem Schweizer Literaturpreis 2014 ausgezeichnet.

Grossvater Annibal Sutter betrieb den Hof in der "guten alten Zeit" - 'alt' ganz sicher, 'gut' nur in mancher Hinsicht. Grossvater würde das niemals einschränken. Störrisch verteidigt er das Althergebrachte. Symbol für diesen eisernen Beharrungswillen ist seine einst bärenstarke Stute Bagatelle, die viele Jahre harter Arbeit auf den Feldern mit ihm geteilt hat und jetzt stoisch ihren Tod zu erwarten scheint.

Irgendwann hat Grossvater den Hof seinem Sohn Jean überlassen. Der gründet eine Familie mit einer Frau, die namenlos bleibt, und zwei Kindern, Lea und Auguste, genannt Gus. Unter dem sanften Druck der sich wandelnden Zeiten ahnt er die merkantilen Notwendigkeiten, öffnet sich nach und nach ein wenig, soweit er muss, ist sogar stolz auf seine vermeintliche Modernität. Er investiert in eine teure Hühnermastanlage, einen fensterlosen Brutkasten mit automatischer Belüftungs- und Fütterungssystemen. Im Grunde hasst er "diese elenden Vögel", sie sind nicht "seine Verbündeten, wie es seit je die Kühe auf der Weide oder im warmen, regelmässig gesäuberten Stall waren, wie es unsere gepflegten und in Schuss gehaltenen Wiesen waren, wie es unsere ordentlichen Gersten- oder Maisfelder waren". Die ungeliebte Hühnerzucht reicht nicht einmal, um den Hof langfristig am Leben zu halten.

Dann bricht der Sommer 1976 herein, in dem sich alles bündelt, "unser Leben entglitt und die Welt meiner Kindheit zu Ende ging". Gus, der Ich-Erzähler, ist dreizehn Jahre alt. Stundenlang versinkt er in seinen Comic-Heften, deren Helden-Welten nie stillstehen und doch im entscheidenden Moment immer wieder einfrieren, bis in der Woche darauf die Fortsetzung erscheint. Ebenso gern verharrt er in der Beobachtung der Natur, die "immer dieselbe Landschaft blieb"; er hält sie in Zeichnungen fest.

Drum herum verändert sich die Welt indes unaufhaltsam. Die Autobahn und eine neue Kantonsstrasse haben die Wege verkürzt und neue Arbeitsplätze gebracht, der Strukturwandel kündigt sich an. Am Dorfrand entsteht ein Villenviertel. "Ein Netz wob sich um unsere dörfliche Abgeschiedenheit, aber Papa wollte nicht, dass wir uns davon einwickeln liessen."

Wie ein Katalysator fällt eines Tages Cécile, Mutters neue Freundin aus der Stadt, in dieses bedächtig fortschreitende Leben ein. Bunt wallende, fusslange Gewänder und betörende blumige Düfte erfüllen bald das ganze Haus und erwecken wie Céciles Entschiedenheit im Gespräch dei verstörte Aufmerksamkeit aller. Nur Mama, zierlich und seit je von starken Allergien gegen Heu und Hühnerkot gequält, kann auf einmal frei atmen. Ihrem Sohn gesteht sie: "Cécile tut mir gut"; er werde jetzt "manche Dinge verstehen". Aber Gus würde viel lieber noch ein kleiner Junge bleiben, als Erwachsenenprobleme zu begreifen. Dennoch zerbröckelt sein Lebensgefüge, denn "ich war ein Teil dieses zerbrechlichen Hauses".

Papa kann schon "die positiven Schwingungen" kaum ertragen, doch zum Eklat kommt es, als Mama mit Céciles Rückendeckung ankündigt, eine Arbeit in der Stadt annehmen zu wollen. Am nächsten Abend sind beide Frauen für immer weg.

Noch fataler wirken sich Hitze und Dürre aus. Mensch, Tier und Pflanzen leiden. Wenn nicht bald die rettenden Militärlastwagen mit Wasser das abgeschiedene Dorf erreichen, ist der ganze Hof in Gefahr, der immer schon knappe Ernteertrag vernichtet, die Existenz der Familie ruiniert.

In ihrer glühenden Baracke eng zusammengepfercht, hocken die zehntausend Hühner förmlich aufeinander. Sie picken nicht, legen nicht zu, werden niemals die Mindestrendite bringen. Der Vater, Gus und Knecht Rudy tun ihr Möglichstes, den Tieren Linderung zu verschaffen. Nur durch eine Desinfektionsschleuse und in Schutzkleidung darf man den "geheimnisvollen Planeten, weit weg von unserem Sonnensystem" betreten, um aus dem Gewusel die verendeten Exemplare zu fischen, die von ihren Artgenossen in "kannibalischem Wahn" erledigt wurden. Als ein Ventilator ausfällt, die Hitze ins Unerträgliche steigt und die Vögel zu Dutzenden tot umfallen, reisst Papa die Wellblechplatten vom Dach.

Eine naheliegende Idee, aber ein dramatischer Fehler. Denn als der sehnsüchtig erwartete Regen endlich kommt - doppelte Ironie des Schicksals: kurz nach dem Eintreffen der Wassertankwagen und im Übermass einer Sintflut -, findet er freien Zugang in die Hühnerhalle und bringt nicht nur dem verblebenen Federvieh den Tod.

Roland Butis Roman überzeugt in vielerlei Hinsicht. Der sensible Erzähler Gus vermag die Wandlungen jenes Sommers - seine eigenen ebenso wie die seiner Familie und seiner Heimat - präzise zu fassen; gesellschaftliche und wirtschaftliche Theorien bleiben unaufdringlich im Hintergrund; leiser Humor schafft Distanz zum traurigen Geschehen; die sorgfältig gesetzte, alle Sinne adressierende Sprache ist ein Genuss. Die Symbolik schöpft ihre Bilder aus unmittelbarer Nähe zum Gegenstand (eine flugunfähige Taube, die Gus in Pflege nimmt; die alte Stute, die "weder die Augen schliessen noch sich zum Schlafen hinlegen konnte, weil sie nicht mehr hochgekommen wäre").

Viele Jahre nach dem Jahrhundertsommer kehren Léa und Gus zurück auf den Hof. Léa, vom Vater nie recht verstanden, obwohl sie doch schon als jugendliche Geigenvirtuosin für Aufsehen gesorgt hatte, ist ein Erfolgsmodell: Sie hat BWL studiert, geheiratet und zwei Kinder bekommen. Gus ist dagegen noch immer ihr kleiner "farbloser Bruder", ein Junggeselle ohne Ambitionen. Dem Hof ist der Segen weiterhin versagt geblieben. Vater, der jetzt allein in einer kleinen Kammer lebt, wollte nach dem Hühnerdesaster nicht wahrhaben, dass traditionelle Landwirte wie er mit ein paar hundert Quadratmertern Ackerland keine Zukunft haben. Die Kosten sind höher, als der Verkauf von ein paar Litern Milch und ein paar Eiern einbringt. So steht das Anwesen jetzt zur Versteigerung. Der Vollstreckungsbeamte und Kaufinteressenten von nah und fern sind angereist und beäugen versteckt interessiert das museale Inventar. Papa, verbittert und nur noch ein Schatten seiner selbst, sitzt auf der Wiese unter einem schicksalsträchtigen Baum und schweigt, als werde er eins "mit den Überresten all der Männer und Frauen ..., die von diesen ehemals fruchtbaren Böden genährt wurden".

Ein ungewöhnliches Sujet, eine anrührende Geschichte, eine feine Sprache. Und doch bleibt eine Unschärfe: Was will uns der Autor denn sagen? Klar ist, dass Vaters Massentierhaltung das "jahrtausendealte Bündnis" von Respekt zwischen Mensch und Tier aufkündigt; die "rachitischen Körper" seiner Hennen sehen nicht einmal mehr aus, "als seien sie Teil der Natur". Aber das alte Bündnis wieder herbeizuwünschen, wie das Abschlussbild evoziert, kann keine Alternative mehr sein. Im Übrigen ist der Hühnerfarm-Geschäftsplan wirtschaftlich vielleicht ganz richtig. Laut Butis Plot scheitert Vater Sutter nicht am Konzept, sondern er hat schlicht Pech, dass ihm die Hitzewelle das Fundament wegspült (ebenso wie den Bergbauern alten Stils); ohne sie hätte sein Unternehmen Erfolg haben können. Ist das Ganze also bloss ein Exempel für Gus' fatalistische Erkenntnis, "dass der Platz, der uns zum Leben auf diesem Planeten zugewiesen war, das Ergebnis einer grossen Lotterie sein musste, organisiert von einem Witzbold von Schöpfer"?

Roland Buti: Le milieu de l'horizon; 2013 Editions Zoé, Genf

Deutsche Übersetzung von Marlies Russ; Das Flimmern am Horizont; 186 Seiten; 2014 Verlag Nagel & Kimche, München; Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg. (Das Werk ist gegenwärtig vergriffen, mein Exemplar habe ich über das Bücherantiquariat ZVAB bestellt. Unbedingt empfehlenswert!)

 

 

 

 

 

 




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Bücherwurm am 10.11.2021
Hallo Robert, habe das Buch gelesen. Eindrückliche Geschichte. Wusste gar nicht, dass wir damals einen solchen Katastrophensommer hatten. Übrigens: die Verfilmung ist ebenfalls super gelungen. Ich würde sagen, ein Meilenstein in der Schweizer Kinolandschaft.

David Hodgson

David Hodgson (13. Juni 1798 - 24. April 1864) war ein Englischer Maler und Mitglied der Norwich School of painters.

Der abgebildete kolorierte Kupferstich trägt den Titel: Ruins in the Bishops Garden, Norwich, und entstammt einer im Jahr 1830 von John Britton angefertigten Mappe mit der Bezeichnung Picturesque antiquities of English cities: illustrated by a series of engravings of ancient buildings, street scenery, etc. with historical and descriptive accounts of each subject. Gestochen von John Le Keux.

Die Tafel trägt ausser dem Titel folgenden Hinweis:

"An Sir William Browne Ffolkes, der seine Vorliebe für die Architektur des Mittelalters durch die Errichtung eines Herrenhauses in Killington, Norfolk, in Anlehnung an diesen Stil zum Ausdruck gebracht hat. Diese Tafel ist von J. Britton unterschrieben."

 




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Die Kunst des Erwin Bolli

"Die Kultur des Brunnens"

Erwin Bolli-Bosonnet; * 02.01.1922 + 06.11.1973 (der Vater des Verfassers) war nicht nur Gartengestalter aus Leidenschaft, vielmehr zeichnete sich sein Verständnis für Kunst - hauptsächlich der bildenden Künste - durch ein besonders vielseitiges und talentiertes Schaffen aus. So spielte er in seinen Jugendjahren Klavier, beherrschte die Aquarellmalerei, das Gestalten und Modellieren mit Gips und Ton und war ein Meister der feinen Linien in der Handhabung von Tusche und Pergamentpapier. Der Umgang mit Fotokameras und dem geschulten Blick für die Details - hier überwiegend in der Schwarz-Weiss-Fotografie - war ihm ebenso vertraut.  Ferner entwickelte er - vor allem in späteren Jahren - ein feines Gespür für zeitgenössische sowie klassische Musik. 

Der Werdegang in Kürze:

Erwin Bolli absolvierte auf dem Herrschaftsbetrieb von Generaldirektor E. Homberger-Rauschenbach in Schaffhausen eine Gärtnerlehre unter der Leitung von Herrschaftsgärtner Eduard Wenger. Bevor er im Jahr 1941 den Jahreskurs an der Gartenbauschule Oeschberg in Koppigen besuchte, befasste er sich während 10 Monaten mit der Parkpflege einer Villa in Cologny-Genève. Nach seiner Ausbildung übte Bolli verschiedene Tätigkeiten aus: Er arbeitete beim Schaffhauser Gartengestalter Walter Schwaninger, im Botanischen Garten der Universität Genf im Bereich Treibhäuser und Pflanzenkulturen sowie bei den Gartenarchitektinnen Hofmann und Bächle in Männedorf, bis er schliesslich 1945/46 zum bekannten Zürcher Büro "Mertens und Nussbaumer" kam. Anmerkung des Verfassers: Nach dem Aktivdienst, den er in den Jahren 1941-44, im Schaffhauser Füs Bat 61 absolvierte, bereiste er Paris, wo er an der Académie des Grandes Chaumières zwei Semester bildende Künste studierte. Danach nahm er zusammen mit Werner Stücheli, Architekt aus Zürich, erfolgreich an zahlreichen Wettbewerben teil. Im Jahr 1948 gründete Erwin Bolli zusammen mit Adolf Dubs ein Büro für Gartengestaltung in Schaffhausen und Zürich. Während rund sieben Jahren trugen beide Geschäftsführer dazu bei, die Gartengestaltung besonders im Raum Schaffhausen bekannter zu machen. 1955 trennte sich Bolli jedoch von Dubs und gründete noch im selben Jahr die Einzelfirma Erwin Bolli Gartenarchitekt BSG in Schaffhausen und Neuhausen am Rheinfall. Aufgrund einer unheilbaren Stoffwechselkrankheit musste er sich (ab etwa 1965) immer mehr aus dem Geschäft zurückziehen.

Text, soweit nichts anderes vermerkt: Caroline Mattes

 

Der folgende Artikel mit Texten und Fotos von Erwin Bolli stammt aus der schweizerischen Zeitschrift "Mys Hus" - Jahrgang ca. 1955 - einer Publikation für Haus- und Gartenbesitzer, mit fachlichen Informationen, Tipps und Anregungen, sowohl für Laien als auch Fachleute aus der Architektur- und Baubranche.

 

 

links: Das schön geschweifte Brunnenbecken stammt vermutlich aus dem Spät-Biedermeier. Es fand an der sonnigen Hausfront als Gartenbrunnen und Spender von Kühle und Ruhe über dem Sitzplatz vor dem Wohnzimmer Aufstellung.

rechts: Ein antikes Säulenkapitell - früher vielleicht die Zierde eines heidnischen Tempels und später einer christlichen Basilika - ergab den ornamental reich geschmückten Brunnen in einem ehemaligen Klosterhof der an ost-römischer und gotischer Tradition reichen Stadt Ravenna.

links oben: Dieser Brunnen in althergebrachter Form schmückt eine kleine Stufenterrasse in einer modernen Gartenanlage.

rechts oben: Was mag der alte Tessinerbrunnen schon alles gesehen haben? An eine Felswand angelehnt, bildet er, eingerahmt von Steinbänken, einen idealen Ruheplatz.

unten links: Aus längst vergangener Zeit erhalten gebliebene Ziehbrunnen bilden den Anziehungspunkt für Touristen, wie dieses Kunstwerk aus San Marino dartut. 

 

Originalzeichnung als Vorlage für den Artikel. (Tusche auf Pergamentpapier, Format ca. A4)

 

Robert Bolli, im September 2021


 

 

 

 




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Peter Pan, Albtraum im Nimmerland

Nein, Christina Henry hat mit der Publikation von "Peter Pan" wahrhaft keine blosse Neufassung des weltberühmten Kinderbuchklassikers vorgelegt. Das belegt nur schon der Untertitel Albtraum im Nimmerland. Im Gegensatz zur Originalvorlage von J. M. Barrie, im Jahr 1902 unter dem Titel "The little white Bird" veröffentlicht, mittlerweile dutzendfach verfilmt und als Musical vertont, wendet sich Henry mit ihrer Interpretation explizit an eine reifere Leserschaft. Freunde der Fantasy- und Horrorliteratur werden beim Lesen von Henrys Werken voll auf ihre Kosten kommen. Denn Peter Pan, der Junge, der niemals erwachsen werden will, ist in ihren Augen nicht einfach ein liebenswerter Kinderfreund, der nur Spiel und Spass haben möchte, sondern ein zutiefst egomanischer, auf sich selbst bezogener Junge, der sich im Verlauf der Handlung zu einem wahren Monster mit psychopathischen Neigungen entwickelt.

Die Autorin lässt die Geschichte von Peter Pan aus der Sicht von Kapitän Hook (in der Ich-Form) erzählen - und ermöglicht so dem Leser eine völlig neue Perspektive auf die Geschehnisse. Christina Henry schreibt in teils drastischen, detailreichen Schilderungen, teils lässt sie sanfte, beinahe philosophische Betrachtungen in die Handlung einfliessen, ohne jemals langatmig zu werden. Ich habe das Buch innert einer Woche buchstäblich verschlungen. Die schöne gebundene Ausgabe - und die nachfolgenden Werke der Serie - werden in meiner Bücherwand einen Dauerplatz erhalten.

Aus dem Klappentext:

Du glaubst, meine Geschichte zu kennen. Natürlich, jeder kennt meine Geschichte, sie wird wieder und wieder erzählt. Aber sie entspricht nicht der Wahrheit. Denn Peter Pan lügt. Peter wird euch erzählen, dass ich der Bösewicht in seiner Geschichte bin, dass ich ihm Unrecht getan habe, dass ich niemals sein Freund war. Aber wie ich schon sagte, Peter lügt. Dies ist, was wirklich geschehen ist: Ich bin Peter Pan auf seine Insel gefolgt, weil er mir ewige Kindheit und unendlichen Spass versprochen hat. Ich war sein erster und bester Freund auf der ganzen Welt und seine rechte Hand. Aber Peters Verständnis von Spass ist so gefährlich wie ein Piratensäbel, und als ich das erkannte, wurde Nimmerland für mich zum Albtraum.

Christina Henry; Original: Lost Boy, 2017, Verlag Berkley, New York. Deutsch bei Penhaligon, 2021; 366 Seiten.

 




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Post Hotel Löwe, Mulegns

"Post Hotel Löwe", Mulegns/GR

Mulegns im Oberhalbstein ist ein dramatischer Ort. Die Nationalstrasse zum Julierpass führt mitten durch das Dorf, keine zwei Dutzend Menschen leben noch da - ein Lastwagen nach dem andern, ein Auto ums nächste drängelt über die abgeknickte Strasse ins Engadin. Das schöne Dorf wird vom Automobil malträtiert. Doch Mulegns hat eine grosse Geschichte als Sust und als Residenzort von Rückkehrern, die Geld gemacht hatten als Emigranten. Die bedrohten grossen Häuser sind Perlen, ihr Ensemble prächtig, dem allem eine Zukunft zu geben aber ist bisher gescheitert. Denn die Vorstellung, dass hier, wo das Auto Landschaft und Dorf zerstört, etwas werden könnte, braucht erheblichen Mumm.

Zweierlei bewegt nun diese Vorstellung. Da ist auf der einen Seite das Tiefbauamt Graubündens. Seine Ingenieure fordern freiere Fahrt für die freieren Bürger und wollen die enge Dorfdurchfahrt erweitern. Dazu planten sie das Weisse Haus, eines der schönsten Häuser, halbwegs abzubrechen, was Erstaunen, Protest, Unwillen auslöste. Auf der anderen Seite bewegt Origen. Origen hat als Theater- und Musikveranstaltung begonnen und wurde zur Kulturinstitution, die mit Kunst Regional- und Kulturpolitik macht, die im Alpenraum ihresgleichen sucht. Origen will aus Mulegns an der Julierstrasse wieder einen Ort machen. Das "Post Hotel Löwe" ein grandioses aber schlafendes Hotel und das "Weisse Haus" sollen zum Kulturraum werden. Hinter der Idee steht Giovanni Netzer, Origens Intendant. Ein Vorhaben ums andere schiebt er an - das Theater in der Scheune (Clavadeira), Atelier- und Proberäume in leerstehenden Herrschaftshäusern, ein Kaffeehaus in Riom und ein weiteres Theater in einer Burgruine (ebenfalls in Riom) und so weiter - sind ihm geraten und jede Saison gelingt ihm ein originelles und gut besuchtes Theater-, Tanz-, Diskurs- und Ausstellungsprogramm. Nun also die ganz grosse Kiste: "Die Nova Fundaziun Origen erweitert ihr Engagement in Mulegns und setzt sich für den Erhalt des gesamten spätklassizistischen Gebäudeensembles am Fallerbach ein. Nebst dem "Post Hotel Löwe" soll auch die "Weisse Villa" des Zuckerbäckers Jean Jegher in ein zukünftiges Kulturkonzept einbezogen werden. Damit die Rettungsaktion gelingt, benötigt Origen bis Mitte August 2019 insgesamt 3,1 Millionen Franken."

Netzer lädt zu Patenschaften ein, vertraut auf seine Fähigkeit grosse Summen vom Kanton, den Gemeinden und hoffentlich auch dem Bund zu holen und noch grössere aus der Wirtschaft; und er macht auch die Verschiebung der "Weissen Villa" zum Theater - eine Eintrittskarte kostet 1000.--. Man ist sich einig, wenn einer das schaffen soll, dann dieser Theatermann, der für Riom mit Sachverstand, Tollkühnheit und Pfiffigkeit einen Platz auf der Kunstlandkarte geschaffen hat. Und eine erste Etappe scheint ihm schon gelungen zu sein. Er hat das Tiefbauamt überredet auf sein Projekt zu verzichten und mit ihm zusammen zu spannen. Netzer gerät solches auch, weil er sanftmütig mit Machtverhältnissen uns Unsinn umgeht. In seinem wie immer schön gestalteten und gut geschriebenen Prospekt zum Vorhaben ist nicht mit einem Wort kritisch von der Ursache von Mulegns Untergang die Rede - von der zerstörerischen Kraft des Autos und dem Anspruch seiner Strassenbauer für die schnelle Fahrt Dörfer und Landschaften zu zerstören. Doch wer weiss, schlägt Netzers Projekt ein, wird er als nächsten Schritt einen Tunnel unter dem Dorfschmuckstück hindurch graben, finanziert aus Ablassgeldern der Autofahrer.

Text: Köbi Gantenbein am 29.04.2019

Das Post Hotel Löwe an der Julierstrasse in Mulegns vor der Renovation. Rechts die alte Poststation. Foto: TV-Wunschliste.de

 Der Speisesaal in restauriertem Zustand.

 Die Anrichte im Speisesaal.

 Eines der renovierten Gästezimmer.

 Eine sehr gut erhaltene Waschkommode mit Marmorplatte.

 Ein weiteres Gästezimmer. Alles im Original erhalten.

 

 




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